Vom Klassenclown zum Regisseur - Bericht über den „ganz schön anders“-Filmworkshop
“Nike hat nicht so gut geschauspielert” lautet die Regieanweisung von Shahin. Tim fragt nach, was er damit genau meint. Die Diskussion beginnt. “Sie wirkt gar nicht überrascht.” Alle geben fleißig ihre Meinungen zu Nikes Performance ab – auch sie selbst: “Ich weiß ja, dass Lotti gleich durch die Tür kommt. Wie soll ich denn da überrascht wirken?” Irgendwann stimmt der Take. “Danke, aus!”
Ich sitze in einem Klassenzimmer als ich diese Szene beobachte. Doch es fühlt sich eher nach Filmset an. Gefilmt und geschnitten wird mit iPads. Und die Akteur*innen vor und hinter der Kamera sind die Schüler*innen der Tellkampfschule in Hannover nahe des Maschsees. Eine feine Schicht Schnee schmückt den Schulhof. Das Jahr 2023 neigt sich dem Ende zu – und die Dreharbeiten beginnen. Tim Fischer, Filmkritiker und Webvideoproduzent, kennt sich aus. Er erklärt den Kindern die Grundlagen des Filmemachens. Einstellungsgrößen, Schnitt, Filmmusik.
Das alles passiert im Rahmen des „ganz schön anders“-Filmworkshops, den ich heute begleiten darf. Die Klasse 8C hat sich auf die Teilnahme beworben und arbeitet nun während der Unterrichtszeit an eigenen Filmen. Feedback gibt es von Expert*innen aus der Filmbranche. Die fertigen Filme nehmen am Kurzfilmwettbewerb teil und werden sogar im Kino gezeigt. Ein riesiges Erfolgserlebnis sei es, den eigenen Film auf der großen Leinwand zu sehen. Insbesondere für die Inklusionskinder, erzählt mir der Projektleiter Markus Götte. “Der schönste Moment ist, wenn die ganze Arbeit zusammen kommt: ‘Das sieht ja aus wie ein richtiger Kinofilm!” – ergänzt Tim Fischer.
Filme zum Motto „Über Über Morgen“
Jährlich befeuert ein neues Thema die kreativen Impulse der jungen Filmschaffenden. In diesem Jahr verwirklichen sie ihre eigenen Zukunftsvisionen unter dem Motto “Über Über Morgen”. In einem Film stöbern Roboter im Müll, den wir hinterlassen haben. In einem anderen verliert eine alte Frau wegen einer Überschwemmung ihre Freunde. Der Zeitgeist des jeweiligen Jahres lasse sich aus den Filmen ablesen, beobachtet Markus Götte. Einst haben sich die Schüler*innen mit der Corona-Pandemie und ihren Folgen beschäftigt, insbesondere mit der Einsamkeit. Nun treibt sie der Klimawandel um, aber auch das Interesse an KI (Künstlicher Intelligenz) ist präsent. Markus gibt zu, man tendiere dazu, die Kinder zu unterschätzen. Mir geht es ähnlich.
Eine Gruppe möchte sich mithilfe von Filmmagie an einen anderen Ort versetzen. Eigens dafür haben die Expert*innen vom Workshop einen riesigen Greenscreen mitgebracht. “Den brauchen wir nicht. Wir stellen uns einfach vor eine leere Wand. Den Rest macht die App.” Ich schaue nicht als einziger etwas verdutzt drein, als die Kids plötzlich erklären, wie das heutzutage viel einfacher geht, mithilfe von KI. In der großen Pause schließe ich mich den 13- bis 14-jährigen um Jung-Regisseur Shahin an. Die erklären mir, was man mit ihren Apps alles möglich ist. Automatisierter Schnitt, Previsualisierung von Szenen. Ich fühle mich alt.
Politisches Interesse und Medienkompetenz
Die junge Generation ist politisch interessiert und weitaus medienkompetenter, als man ihnen immer nachsagt. So, dass ich etwas lernen kann. Kein Wunder, wenn die Kameras und Computer mittlerweile so klein sind, dass sie in eine Hosentasche passen. Die technischen Möglichkeiten machen es leicht, kreatives Talent zu Tage zu fördern, das sonst möglicherweise verborgen geblieben wäre. Jede*r kann Filme drehen. Das betont auch Markus Götte. “Beim Workshop geht es nicht um Technik, sondern darum, Selbstwirksamkeit zu lernen.”
In einem sind die sich die Expert*innen von „ganz schön anders“, die Lehrer*innen und Schüler*innen einig: Bei der Arbeit am Film blühen alle auf. Typisch sei es, dass die sogenannten “Störenfriede” und “Klassenclowns” die Regie übernehmen oder mit Charisma vor der Kamera überzeugen. Wer mal an einem Film gearbeitet hat, weiß, dass die vielfältigsten Qualitäten nötig sind – und die ganz selten bis nie in einer Person gebündelt zu finden. Im Team kann jede*r seine*ihre eigenen Stärken einbringen. Shahin erzählt mir, wie überrascht er war, wie gut der sonst so schüchterne Tayssir schauspielern kann.
Stärken entdecken und kreativ sein
Irgendwann ist kein Input mehr nötig. Die Kids machen sich eigenständig und bestimmt ans Drehen. Besonders beeindruckt mich, wie sie sich gegenseitig unter die Arme greifen, darauf achten, dass jede*r einzelne sich einbringen kann. Bis auf die Erwachsenen. Auf dem schneebedeckten Schulhof stehen ein Webvideoproduzent, eine Lehrerin und ich und beobachten staunend das Schaffen der jungen Filmschaffenden. Da begreife ich, worum es bei „ganz schön anders“ geht. Nicht um den Input. Sonden darum, einen Rahmen zu schaffen, um aus dem Unterrichtsalltag herauszubrechen. Kreativ zu werden und dabei Stärken zu entdecken.
Die Filme der Schüler*innen werden bei der Preisverleihung am 15. März im Astor Grand Cinema in Hannover zu sehen sein.
Jonas Helmerichs
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Die Preisträger*innen des Wettbewerbs – und die Top Ten 2023/24
- Preis "The Book of the Multiverse", Evangelische IGS Wunstorf
- Preis "Kern der Hoffnung", Schiller-Gymnasium, Hameln
- Preis
"Mach dir nicht so viele Gedanken über übermorgen", Sophie-Scholl-Schule, KGS Wennigsen
"2040", Neue Oberschule Braunschweig
Preis der Jury "Klappe zu - eine Toilette sieht rot", Astrid-Lindgren-Förderschule, Moordorf
Bester Dokumentarfilm "Moore, die Retter unserer Erde", Paul-Gerhardt-Schule Dassel
Publikumspreis "Mobbingopfer Überübermorgen", Haupt- und Realschule Clausthal-Zellerfeld
Weitere Nominierte Filme waren:
- "Alle Wege führen nach Kaufland", Sophie-Scholl-Schule, KGS Wennigsen
- "Team11a auf der Suche nach Recycling", Wilhelm-Schade-Förderschule Hannover
- "Der Tag, an dem die Welt zerbrach", Gymnasium Bremervörde
- "Der Zeitreisende", Gymnasium Ernestinum Rinteln
- "Future Untitled", Cäcilienschule Oldenburg
Jury des inklusiven, niedersächsischen Schüler*innen-Wettbewerbs waren der Filmemacher Leonard Grobien, der Schauspieler Hoang Minh Ha, die Drehbuchautorin Alexandra Mauritz, Sophia Bosch, Heidehofstiftung, Sabine Eder, Blickwechsel e.V., Adele Mecklenborg, Medienzentrum der Region Hannover, Schüler-Jury Fatlind Daci und Can Sinan Kara. Die Filmgala moderierte Tim Gailus, Moderator bei KIKA.